ein eigener Engel

Ein Engel teilt mein Leben. Ich habe ihm einen Namen gegeben – Sofia.
Das bedeutet Weisheit und wenn ich in seine Augen sehe, finde ich dort tiefes Wissen um alle Dinge. Aber der Weg nach außen ist blockiert.

Ein Engel landet...


Endsation Sehnsucht... als man mir meine Tochter Sofia unmittelbar nach der Geburt auf den Bauch legte. Glücksmoment pur. So wird ein festes Band fürs Leben geknüpft, durch nichts zu erschüttern egal was da kommen mag.

Wie hätte ich ahnen können, dass eine sehr seltene Krankheit, entdeckt bereits 1966 durch den Wiener Kinderarzt Dr. Andreas Rett, für uns absolute Bedeutung erlangen würde. Und dass Wissenschaftler in den USA schon während meiner Schwangerschaft daran arbeiteten, einen Gentest zu entwickeln. Ein halbes Jahr sollte es noch dauern.

Nichts wusste ich von all dem als das Neugeborene Haut an Haut auf mir lag und seine ersten Atemzüge tat. Bis heute ist das Rett-Syndrom keineswegs Standard bei pränatalen Untersuchungen oder im Neugeborenen-Screening. Das frühe Wissen um diese Krankheit hätte keine therapeutischen Konsequenzen (auch wenn bereits die Forschung pulst). Man kann (noch) ruhig abwarten ob es denn ausbricht und ändern kann man daran nichts.

Und es bricht aus, irgendwann zwischen dem 6. und 18. Lebensmonat. Und bis dahin gesunde Mädchen fangen an, sich zu verändern...


... sie entwickeln sich nicht mehr weiter, verhalten sich irgendwie anders als erwartet, verlernen plötzlich Dinge, die sie schon gekonnt haben wie Sprechen oder Laufen, sehen völlig normal aus aber verlieren rasch den sinnvollen Gebrauch ihrer Hände. Statt dessen setzen stereotype Handbewegungen ein – Waschen, Kneten, Zupfen, Schlagen in vielen möglichen Mustern.

Nur Mädchen? Nein, vereinzelt auch Jungen.

Wenn es soweit ist, kann man das Rett-Syndrom gut diagnostizieren. Anhand der klinischen Symptome  und per Gentest.
Doch bis dahin gehen Eltern schon längst durch die Hölle der Angst. Denn sie spüren dass etwas nicht stimmt. Es sind kleine, teils unbedeutende Dinge, die aber in der Summe zu großer Besorgnis führen. Häufig trösten dann die Ärzte... „ja, das wird schon noch, das wächst sich aus und das holt sie noch nach, das ist zwar alles grenzwertig aber durchaus noch im Rahmen, machen Sie sich mal keine Sorgen“. Natürlich macht man sich trotzdem Sorgen und so war das auch bei meinem Engel.

Doch zunächst mal eitel Sonnenschein. Ein süßes zufriedenes Baby. Stillen, Schlafen, Entwicklung.... alles bestens. Kinder-Vorsorge-Untersuchungen U1 - 6 stets volle Punktzahl, Überdurchschnitt. Sofia krabbelte mit 6 Monaten und stellte sich bald darauf auf die kleinen Beinchen.

So auch im August 1999 als Sofia ihren ersten Affektkrampf erlitt. Klinisch kann man Affektkrämpfe ganz genau beschreiben und von Epilepsie abgrenzen.
Doch an jenem Sonntag wusste ich weder was hier geschah, noch das es als harmlos gilt. Höchste Alarmstufe war angesagt und das hieß, wir haben zum ersten Mal eine Abteilung für Entwicklungsneurologie in einer Uniklinik aufgesucht. Der Kinderneurologe beruhigte mich mit Verweis auf Affektkrämpfe. Nebenher beglückwünschte man uns noch zu diesem prächtig entwickelten Kind. Denn Sofia war so eindeutig voran mit allem was sie konnte, dass es selbst in der Uniklinik aufgefallen ist.

Mit 10 Monaten stellte sich Sofia dann endgültig auf die Beine und erlernte das Laufen. Und sofort auch das Treppensteigen, das Rennen und vor allem das Wegrennen. Kaum auf den Boden gestellt ab durch die Mitte. Schnurstracks und ohne Gefahrenbewusstsein. Stets und überall. Ich immer hinterher. Lange Jahre durch.

Aus dieser Zeit sind mir einige Vorfälle in lebhafter Erinnerung geblieben.

Eines Abends im Winter, es war schon dunkel, Sofia knapp 1 Jahr alt, schaffte es meine Maus erstmals, den Schlüssel, der innen in der Haustür steckte, herum zu drehen und sie machte einen Ausflug in die kalte Winternacht.

Im darauffolgenden Sommer stürzte sich Sofia ohne Vorwarnung in das Schwimmerbecken im Freibad. Habe ich schon erwähnt, dass Sofia das Wasser liebt? Nein, dann wisst ihr es jetzt.

Das Leben wird eigentlich nie langweilig, wenn man einen eigenen Engel hat. Und dass Sofia ein echter Engel ist, sollte sich bald herausstellen ...

Erste Schatten...

Erstes Symptom für Rett – Zähneknirschen. Eine seltsame Angewohnheit fiel mir bei meiner Tochter  mit 20 Monaten auf. Sofia knirschte tagsüber oft mit den Zähnen. Das klang nicht gut, nach Abrieb und Zerstörung. Und wenn dieses Zähneknirschen tage-, wochen-, monate-, jahrelang nicht aufhört, wird es zu einer großen Belastung. Es ist schwer auszuhalten, die Zähne werden tatsächlich abgeschliffen bis auf kleine Stummel und dieses Geräusch geht durch und durch. Später habe ich erfahren, dass Zähneknirschen im RettLand ein Volkssport ist.

Als Sofia 2 Jahre alt war fand ich es völlig normal dass sie greifen konnte, es war so selbst- verständlich. Sofia räumte damals Dinge aus, warf alles, was sie in der Hand hielt, probeweise auf den Boden, kostete mit Vorliebe von Seifen, Cremes, Putzmitteln und versuchte ständig, Türen aufzusperren und Schlüssel zu ergattern. Bei uns zu Hause hatten wir bald begonnen, alle Türen stets zu versperren und die Schlüssel weg zu hängen, deshalb waren Schlüssel von großer Bedeutung für Sofia.

Musik und Geräusche waren und sind Faszination. Ein Leben lang.

Tiere hatten es ihr auch angetan, damals als sie noch so klein war, ob lebendig oder aus Stoff.

Und liebend gern ging Sofia spazieren, kilometerweit an meiner Hand. Auf freiem Feld auch losgelassen von der Hand. Sie war glücklich.

Im nächsten halben Jahr machte Sofia noch große Fortschritte in der Feinmotorik und im Umgang mit Gegenständen. Sie lernte, alleine mit Löffel oder Gabel zu essen, sie warf die Gegenstände nicht mehr nur herum und räumte aus, sondern räumte auch ein, ging sinnvoller mit den Gegenständen um, machte zum Beispiel Steckspiele. Das fand ich nicht weiter aufsehenerregend sondern es war genau das, was ich erwartet hatte. Kinder entwickeln sich nun mal voran, oder hat man je etwas anderes gehört?

Das Rätselraten beginnt...

Wo blieb eigentlich die Vernunft? Stets wegrennen, alles auf den Kopf stellen, Dinge herunter ziehen und durch die Gegend werfen. Keine Gefahr begreifen. Um sie abzuhalten gab es  nur die Möglichkeit, Sofia auf den Arm zu nehmen und dauernd zu tragen. Dagegen wehrte sich Sofia mit aller Kraft, kreischte und schlug um sich.

In der Öffentlichkeit sind wir oft aufgefallen. Ich, die hilflose Mutter, mit diesem ungezogenen Kind. So war unser Bild nach außen da sich selten nur jemand die Mühe machte, hinter die Fassade zu schauen.

Zwischen Spiel und Provokation kam es vor, dass Sofia mit einer aufgeschraubten Zahnpastatube anrückte, sich genau außerhalb meiner Reichweite aufstellte aber so, dass ich sie sehen musste und es dann genoss, wenn ich die Verfolgungsjagd aufnahm. Ich musste oft an den "Gefahrensucher" aus "Kentucky Fried Movie" dabei denken.

In dieser Zeit liebte Sofia Decken über alles, zog diese ständig mit sich herum. Auch zu Jacken, Schneeanzügen, Anoraks hatte sie eine besondere Beziehung. Die bekamen einen Eigennamen, nämlich „Mamaga“ und wurden entweder geliebt oder gefürchtet. Meist geliebt. Im Spiel mit diesen weichen Dingen entwickelte Sofia so eine Art Kuschelsprache, gab ganz bestimmte Laute von sich die so ähnlich klangen wie "ngi", "ih-ih-ih". Das war ihre Art, sich zu amüsieren.

Und das Wasser, ihr großes Lebensthema. Sofia badete auch in Pfützen und in Putzeimern, da kannte sie keine Unterschiede.

Was damals schon auffällig war, Sofia mochte überhaupt kein Spielzeug. Interesse Null. Wenige Ausnahmen hat es gegeben, einige Stofftiere, die große Rutschbahn und das Rutschauto. Das Rutschauto beherrschte Sofia präzise, es war wie eine Verlängerung ihres Körpers. Millimetergenau durch die Kurven in rasantem Tempo, sie hatte es voll im Griff.

„Da komm da Papa“ war der erste Satz, er fiel aus heiterem Himmel im Alter von 18 Monaten und passend zur Situation. Für 18 Monate ist das eine beachtliche Leistung, aber so ein Satz sollte sich monatelang nicht mehr wiederholen. Die Sprache schien sich einfach nicht mehr weiter zu entwickeln. Sofia hatte sich auf einen Wortschatz von ca. 40 Wörtern eingeschossen, sie lernte zwar immer wieder neue Worte dazu, aber dafür gingen etwa genau so viele andere Worte verloren, ein „fließender“ Wortschatz sozusagen. Zwei-Wort-Verbindungen waren noch relativ häufig.

Und dennoch, die Sprache ist da. Sie steht im Kopf parat, das ist offensichtlich. Viel zu oft gibt es diese lichten Momente, kommen Wörter oder Sätze passend zur Anwendung, einmal und dann nicht wieder. Rett steht für einen verzögerten Input und für einen chaotisch blockierten Output. Das erklärte Professor Hagberg auf dem World Congress on Rett-Syndrome 2000. Kann ein Mensch im eigenen Kopf gefangen sein – Aufnehmen, Wahrnehmen, Verstehen aber sich nicht äußern können? Wie fühlt sich das wohl an? Mein Engel kennt die Antwort, aber er kann sie uns nicht geben.

Mit der Zeit wunderte ich mich immer häufiger über Sofia. Schließlich hatte ich durch meine beiden größeren Kinder genügend Vergleichsmöglichkeiten. Irgendetwas war anders ohne dass ich es auf den Punkt bringen konnte. Die Sprache kam nicht in Gang, die Vernunft blieb aus aber das war es nicht nur. Es war mehr.

Zwischenzeitlich waren wir umgezogen. Ob das der Grund für das seltsame Verhalten war? Hat sie den Ortswechsel nicht verkraftet? Aber das schien mir keine ausreichende Erklärung zu sein.

Sofia war knapp zwei Jahre alt, als mich die Ergotherapeutin meines älteren Sohnes eines Tages auf das ihrer Ansicht nach tyrannische Verhalten von Sofia ansprach. Sie bot uns eine Spieltherapie an.  Dabei stießen wir schnell an Grenzen, Sofia weigerte sich. Die Erfolge in der Therapie waren dann, wenn Sofia sich überhaupt auf die Angebote einließ, wenn sie dabei blieb und mal länger hinschaute, nach irgend etwas griff. Das war dann schon sehr gut.

Die U7 - durchgefallen

Bei der U7 kurz vor dem zweiten Geburtstag hakte es zum ersten Mal. Die Sprache hinkte nach und Sofia konnte nicht auf Aufforderung den Ball bringen oder die Tiere im Bilderbuch zeigen. Grund genug, sie in einem sozialpädiatrischen Zentrum vorzustellen. Das taten wir dann wenige Tage nach ihrem 2. Geburtstag in Augsburg. Beim Vorstellungstermin war die Tagesverfassung sehr gut, viel zu gut. Außergewöhnlich ruhig, nicht umtriebig. Das Problem wurde an diesem Tag in dieser Klinik nicht erfasst. Ich konnte nicht vermitteln was mich so beunruhigte. Das Untersuchungsergebnis bescheinigte eine grenzwertige Sprach-Entwicklung, jedoch nicht besorgniserregend. Empfehlung Logopädie. Ansonsten abwarten.

Im Laufe der nächsten Wochen und Monate wurde in Zusammenarbeit mit Logopädin und Ergotherapeutin und anhand eines Entwicklungsgitters klar, dass Sofia nicht nur sprachlich, sondern auch allgemein weit zurück lag in ihrer Entwicklung. Die Art und Weise wie sie spielte und mit Gegenständen umging zeigte ganz klar, dass die Grundvoraussetzungen für Sprache noch nicht erfüllt waren. Ich hatte bislang ja täglich auf das Einsetzen der Sprache gewartet und gehofft, aber da kam nichts. Mittlerweile war Ostern 2001 – Sofia 28 Monate alt, da habe ich sie im Kinderzentrum München angemeldet. Mehrere Monate Wartezeit sollten noch vergehen.

Neuland...

Vorher allerdings stieß ich auf einen Begriff den ich bis dahin noch nie gehört hatte,
das Rett-Syndrom.
Im April oder Mai 2001 schaltete ich im Fernsehen zufällig auf eine Sendung über ein behindertes Mädchen. Mit zweieiiger gesunder Zwillingsschwester. Die Sendung faszinierte mich sofort und dann fiel der Begriff „Rett-Syndrom“. Der Bericht zog mich in seinen Bann und ich saß bis zum Schluss atemlos davor. Symptome wurden aufgelistet und einiges erinnerte mich an Sofia: normale Entwicklung, dann Stillstand, kleiner Kopfumfang, kleine Füße, Zähneknirschen, oft Krampfanfälle unklarer Genese, fehlende Sprache – hoppla, da passte ja einiges. Schließlich wurde eine Internetadresse genannt und mein erster Gang nach der Sendung war an den Rechner. So stieß ich zum erstenmal auf die Elternhilfe für Kinder mit Rett-Syndrom in Deutschland.

Das Rett-Syndrom passte auf meine Tochter - und auch wieder nicht. Eigentlich nicht, weil das Hauptmerkmal, die Handwaschbewegungen, fehlten und die gefürchtete Regressionsphase, die Zeit der Rückschritte, konnte ich bei Sofia auch nicht verzeichnen. Dass beides oft erst viel später einsetzen kann, war mir anfangs nicht klar.

Von da an zog es mich immer wieder auf die Homepage der Elternhilfe. Liebevoll von Eltern für Eltern war die Internetseite der Bundeselternhilfe gestaltet und ich erfuhr in vielen Texten, dass Rett-Mädchen etwas so besonderes sind, dass es keinen passenderen Begriff für sie gibt als „Engel“. Die Mädchen mit den sprechenden Augen nennt man also Rettengel, weil sie so einzigartig sind und weil sie jedes Herz berühren.

Das Rett-Syndrom faszinierte und erschreckte mich zugleich, es ließ mich nicht mehr los, ich las im Forum mit. Es war die Zeit der langen Nächte am Rechner, immer auf der Suche nach Übereinstimmungen mit den Symptomen von Sofia, nach irgendeinem Anhaltspunkt. Surfend von Link zu Link. Stieß auf ungezählte behinderte Kinder im Netz, fand auf vielen privaten Seiten Infos über Krankheiten und den Alltag von Familien mit chronisch kranken Kindern. Schicksale und Lebensgeschichten sind dort nieder geschrieben. Es ist unglaublich und nur das Internet kann diese ganze Bandbreite in dieser Art so direkt vermitteln. Ich knüpfte auch Kontakte mit anderen Eltern und das war Trost. Es war die Zeit vor der Diagnose, die Zeit des Verdachts und die Zeit, als unser Termin im KiZ endlich herannahte.

Verdacht, ja, denn ich konnte doch auch die Fakten zusammen zählen. Im Grunde rechnete ich bereits damit, dass meine Tochter, mein kleines Mädchen, anders ist. Das Wort behindert, geistig behindert, schreckt irgendwie ab. Es passt gar nicht zu diesen leuchtenden Augen, die so unglaublich wach, lustig und wissend, frech, fröhlich und verschmitzt schauen können.

Der Stempel ...

so fuhr ich voller aufgewühlter Gedanken zwischen Angst und Hoffnung und in Begleitung meiner Schwester zur Erstvorstellung ins Kinderzentrum München. Endlich nahm man uns ernst. Arzt und Psychologe gingen auf Sofia ein. Sofia erhielt Aufgaben, die sie zunächst verweigerte. Der Psychologe blieb beharrlich und verhinderte durch Festhalten, dass Sofia weglief. Sofia begann heftig zu schreien, er hielt sie lediglich fest, ignorierte dabei das Schreien und schenkte ihr Aufmerksamkeit sobald sie ruhig wurde. Nach über einer Stunde hatte sich Sofia beruhigt, blieb eine Weile still am Boden liegen und nahm anschließend Kontakt mit dem Psychologen auf. Sie akzeptierte das angebotene Spielmaterial und war die folgenden 1 - 2 Stunden wie umgewandelt: ruhig, verständig, brav. Ein Kind das ich nicht wiedererkannte. Der Psychologe bot uns eine Interaktionstherapie an, damit auch ich besser mit Sofia zurechtkäme. Die Demonstration war überzeugend und gab Hoffnung. Er betonte noch, dass Sofia nicht „falsch“ erzogen ist, wohl aber ihre Erziehung besondere Ansprüche stellt und ich Techniken lernen kann, diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Die Interaktionstherapie wird stationär durchgeführt und ambulant begleitet.

Eine Diagnose konnte an diesem Tag nicht gestellt werden. Allerdings waren sich Arzt und Psychologe einig und haben es auch im Arztbrief so formuliert, dass die große Diskrepanz zu Sofias Altersgenossen auf eine geistige Behinderung deutet.

Übrigens fragte ich schon an diesem ersten Tag im KiZ konkret nach dem Rett-Syndrom. Das wurde eindeutig klinisch ausgeschlossen. Nein, Rett kann das nicht sein, viel zu fit sei mein Engel für Rett.

So bekam Sofia im Alter von 2 Jahren und 9 Monaten den Stempel „geistig behindert“. In dieser Nacht habe ich geheult, obwohl ich es ja nicht anders erwartet hatte.

Was ich schon tief innen gefühlt und geahnt hatte ist also wahr geworden. Es sollten noch so einige Tränen fließen, viele Gedanken und Ängste in diesen ersten Tagen. aber grundsätzlich versuche ich ganz bewusst, die positiven Seiten dabei zu entdecken. Denn nichts im Leben ist nur schlecht oder nur gut, es gibt kein Schwarz-Weiß. Ein behindertes Kind verändert unser Denken und unsere Wahrnehmung, vermittelt tiefere Werte, lehrt uns bedingungslose Liebe, führt uns aus der Leistungsgesellschaft hinaus in die Welt der Förderstätten und Behindertenarbeit mit dem Menschen im Mittelpunkt statt Leistung und Gewinn. Ein behindertes Kind zeigt uns mit dem Herzen zu sehen und offenbart uns die Demut. Öffnet unsere Augen für Nicht-Selbstverständlichkeiten in den vielen Kleinigkeiten jeden Tages.

Was ich meiner Tochter gerne sagen möchte ...

Sofia, wir verstehen die Gesetze deiner Wahrnehmung nicht und können deinem Denken nicht folgen, darum bezeichnen wir dich als "geistig behindert". Aber wir spüren deine starke mentale Präsenz...

Nicht mit Gewalt möchte ich dich pressen in unsere Welt. Ich bin bereit deine Welt mit dir zusammen zu durchwandern. An deiner Seite. Du schuldest mir keine Beweise für versteckte Hochbegabung...du bist gut so wie du bist.


Die nächste Aufgabe war, einen geeigneten Kindergarten zu finden. So kam ich zur SVE der Lebenshilfe Aichach. 15 Jahre sollte diese Einrichtung ein zweites Zuhause werden.

Eines Abends erreichte mich ein Anruf des Psychologen aus dem KiZ. Er bot einen kurzfristigen Therapieplatz an, Sofia solle allein auf die Kinderstation kommen und ich müsse pendeln, täglich Aichach – München und zurück. Das klang bedrohlich, so nach Weggeben des Kindes, aber auch nach Stress, wie sollte ich wohl pendeln mit zwei Grundschulkindern daheim? Andererseits war die Situation damals so schwierig mit Sofia, ihr hyperaktives Verhalten so ausgeprägt, ich fühlte mich derart hilflos und überfordert oft, dass ich wusste, wie notwendig wir diese Hilfe hatten. Die Therapie hatte damit absolute Priorität. Beide Omas sind eingesprungen und täglich kümmerten sie sich um meine großen Kinder. Damit ich jeden Tag zu Sofia fahren konnte. So lief also die Therapie an, die sich lange erstrecken sollte, viel länger als ich anfangs glaubte...

Verhaltenstherapie im KiZ München...


5. November 2001 – mit sehr gemischten Gefühlen habe ich Sofia und ihren großen Koffer ins KiZ gefahren. Während der Zeit des stationären Aufenthaltes gab es andere Ansprechpartner für uns, eine Psychologin und die Stationsärztin. wir führten ein Gespräch zum Kennen lernen und dann bezog Sofia ihr Quartier im Zimmer 3 der Kinderstation. 5 Schwestern bilden das feste Betreuungspersonal, 5 Kinder leben für einige Zeit zusammen in einer familiären Struktur. Sofia erhielt ein Bett und einen Schrank, ich packte den Koffer aus und musste häufig schlucken, die Situation war nicht einfach. Sofia lernte ihre neuen „Geschwister auf Zeit“ kennen und die Schwestern, die von heute an für sie zuständig sein sollten. Ich verbrachte den Nachmittag mit ihr, beim Essen wurden bereits erste Videoaufnahmen gemacht und abends machte ich Sofia bettfertig. Um 19.00 Uhr war feste Schlafenszeit und die Eltern sollten gehen. Es fiel mir so schwer meinen Engel zurück zu lassen, zumal ich ihr nichts erklären konnte. Auf dem Rückweg plagten mich Gewissenbisse. Am nächsten Morgen beeilte ich mich sehr, gleich wieder ins KiZ zu fahren. Leider machten ein heftiger Schneeeinbruch und ein Megastau auf der A8 mir einen gründlichen Strich durch die Rechnung, mit zwei Stunden Verspätung traf ich erst ein. Das ging ja gut los...

Ich fand Sofia im Spielzimmer in der Obhut einer Betreuerin. Sofia war völlig durcheinander. Als sie mich sah kam sie sofort auf meinen Schoß und schmiegte sich fest an, sagte nichts, bleib lange Zeit ruhig sitzen. Das war sehr untypisch für meinen kleinen Wirbelwind und ich merkte, dass es ihr nicht gerade gut ging. Mir ging es auch nicht gut, die erste Woche war einfach schwer.

Die ersten Tage war Sofia deutlich unglücklich und mir ist es schwergefallen, sie Abend für Abend zurück zu lassen. Täglich war ich im KiZ. Nach jener ersten Videoaufnahme des Abendessens wurde ich aus den Mahlzeiten herausgenommen. Das bedeutete viel freie Zeit. 2 ½ Stunden mittags, 1 Stunde abends. Ich lernte andere Eltern kennen und stellte fest, dass ich es genießen konnte: gemeinsam sitzen, reden, ohne ständig aufzuspringen und ein Kleinkind einzufangen. Stundenlanges Lesen mit Kaffee aus dem Automaten, Austausch mit den neuen Freunden und Weggenossen, lange Gespräche mit der Psychologin, der ich mein ganzes Herz ausschütten konnte. Das tat gut. Verständnis, Toleranz rundum. Und die Erkenntnis, eigentlich geht es uns sehr gut. Soviel Krankheit, Leid und Schweres habe ich im KiZ gesehen – das lässt mich Dankbarkeit empfinden. Nach einigen Tagen hatte sich Sofia schon recht gut eingewöhnt und mir fiel es sehr viel leichter, sie im Kinderzimmer Nr. 3 zu lassen. Mit der Psychologin wurden die Ziele der Therapie formuliert: Sofia soll Regeln lernen, soll akzeptieren, wenn Erwachsene für sie entscheiden, soll Forderungen annehmen. Das klingt recht banal, der Weg dorthin ist aber nicht ganz leicht. Ich musste lernen, meinen natürlichen Mutterinstinkt regelrecht zu unterdrücken, musste subtile Methoden anwenden, unerwünschtes Verhalten durch Ignoranz oder Konsequenzen zu bestrafen, erwünschtes Verhalten zu belohnen. Auch das klingt einfach, ist aber landläufig keineswegs die Praxis. Im Gegenteil: schreiende, quengelnde Kinder werden getröstet (Ansprache, Blickkontakt, Zuwendung ist gleich Belohnung), ruhig vor sich hin spielende Kinder werden „in Ruhe gelassen“ (Ignoranz ist gleich Bestrafung). Da bringt man sein Kind zur Behandlung und plötzlich stellt man fest, es geht ja auch um mich selbst. In den psychologischen Gesprächen muss man plötzlich viel von sich preisgeben, es geht um die eigene Person. Aber auch das tut eigentlich gut, wenn erst der Widerstand gebrochen ist, wird es zum echten Bedürfnis zu reden und zu erzählen.
Nach den ersten Tagen wurde ich mehr und mehr aus dem Programm gezogen. Zunächst sollte ich halbe Tage fortbleiben, dann ganze, dann zwei Tage und schließlich eine Woche. Damit das Pflegepersonal und die Psychologin einen emotionalen Zugang zu Sofia finden konnten. In der Trennungswoche durchkreuzte allerdings Fieber diesen Plan. Die Trennung wurde unterbrochen, weil Sofia krank wurde.

Neben der Verhaltenstherapie lief natürlich noch eine breit angelegte Diagnostik: Wach- und Schlaf-EEG, EKG, Herzultraschall, Stoffwechseltests, Überwachung der Blutwerte, MRT des Schädels.
Es zeigte eine grenzwertig verminderte Gehirnmasse zugunsten einer ebenso grenzwertig vermehrten Gehirnflüssigkeit, mit anderen Worten, das Gehirn war noch nicht ganz ausgereift, was aber bei geistigen Behinderungen nicht ungewöhnlich ist. Ansonsten blieben die Ergebnisse aller Untersuchungen ohne Befund. Eine numerische Chromosomenanalyse und ein Gentest auf  das X-fragile Syndrom wurden in Auftrag gegeben und waren ebenfalls unauffällig. Das Rätselraten ging weiter – geistige Behinderung unklarer Genese lautete die vorläufige Diagnose.

Die 8. Therapiewoche brach nun an. Es war zur Routine geworden, die regelmäßigen Fahrten ins KiZ. Freundschaften und Adressentausch mit den anderen Eltern. Fortschritte bei Sofia. Sie akzeptierte nun die Regeln im Kinderzimmer und Machtkämpfe bei der Körperpflege unterblieben. Noch keine Erfolge gab es im Bereich der Anforderungen beim Spiel. Erstaunlicherweise hatte sie sechs Wochen lange keine Affektkrämpfe, nun fingen diese wieder an und natürlich nur in meiner Gegenwart. Darum wurde der geplante Weihnachtsurlaub von drei auf zwei Tage gekürzt. Ich verzeichnete Lernerfolge im sozialen Verhalten, z. B. besuchten wir eine Weihnachtsfeier und Sofia blieb eine Stunde ruhig sitzen, die Essenssituation in der Cafeteria entspannte sich zusehends. Wenn Sofia mit Schreien, sich sträuben, fortlaufen provozierte, kannte ich nun Mittel, die ich entgegensetzen konnte: fixieren und ignorieren, längere Auszeit setzen, Hände festhalten, Stuhl/Buggy umdrehen etc. Endlich weicht die große Hilflosigkeit. Der stationäre Aufenthalt wurde bis mindestens Mitte Januar verlängert. Gleich im Anschluss sollte es zu Hause in die SVE und Tagesstätte gehen. Mein Leben nahm allmählich eine positive Wende und ich tauchte aus dem unglaublichen Sumpf auf, in dem ich gefangen gewesen war. Ich verfügte über mehr Freizeit, mehr Handlungsspielraum und wusste mir zu helfen. Die Hilfe durch das KiZ und danach durch die Lebenshilfe ist so sehr notwendig gewesen und wichtig, nur so konnte es überhaupt  noch weitergehen. Ich merkte, wie ich langsam wieder den Weg zu mir selbst finden konnte. Neue Kraft wuchs mir zu und beflügelte mich regelrecht.

Weihnachten stand unmittelbar bevor und Sofia kam am Heiligen Abend nach Hause. Die erlernten Methoden aus der Klinik klappten auch zuhause. Sofia fühlte sich gleich wieder vertraut im Haus und war fröhlich. Als es nach zwei Tagen wieder zurück auf die Station ging freute sie sich ebenfalls. Deutlich zu merken wie sie herum sprang herum, quietschte und sofort zu allen Kindern lief.

An ihrem 3. Geburtstag durfte uns Sofia erneut für eine Nacht zuhause besuchen. Schließlich wurde sie am 11. Januar 2002 entlassen, 11 Wochen sind es letztendlich gewesen. Sofort schloss sich die SVE an. Zu Hause lief es soweit gut. Natürlich war Sofia nach wie vor sehr anstrengend, versuchte auch immer wieder zu provozieren, Grenzen zu testen, jedoch ich konnte mir besser helfen und hatte gelernt, Anforderungen zu stellen und durchzusetzen. Die SVE/Tagesstätte war natürlich die tägliche Hauptentlastung und es ging mir richtig gut in dieser Zeit. 1 zu 1 lässt sich die Verhaltenstherapie nicht übertragen auf den Alltag. Unter Stress und Termindruck schafft man es nicht immer die Methode korrekt anzuwenden.  Aber ich fühlte mich sicherer und nicht mehr hilflos ausgeliefert.

Es setzte ein Prozess ein in dem alle in der Familie lernten, mit der Situation umzugehen, konsequent zu sein wo nötig, nachgiebig wo möglich.

Viel später, als wir die Diagnose hatten, erschienen die Bemühungen mit der Verhaltenstherapie in etwas anderem Licht. Zum Beispiel dass ernsthaft von Sofia verlangt wurde, handmotorisch anspruchsvolle Steckspiele auszuführen. Ihre Weigerung mitzumachen und das Desinteresse waren nicht nur verhaltensbedingt, sondern bereits Vorbote der Krankheit. Aber zum damaligen Zeitpunkt wusste niemand es besser, denn Sofia war ja viel zu fit für Rett... Und die Therapie hat wichtige Grundlagen geschaffen und den Stein ins Rollen gebracht.

Licht ins Dunkel – die Diagnose...


Noch immer war die Ursache für die geistige Behinderung unbekannt. Mit dem Rett-Syndrom setzte ich mich nach wie vor auseinander. Dann kam die Zeit, da sich mein Engel als ein solcher „outete“.

Eigentlich fing es bereits im KiZ an, ganz harmlos, versteckt, pünktlich zum 3. Geburtstag. Mir fiel auf, dass Sofia eine Angewohnheit entwickelte. Häufig führte sie beide Hände zusammen. Es hätte Zufall sein können, es hätte ein Tick sein können, es hätte ... Rett sein können? Vom Betreuungspersonal schien das niemand zu bemerken. Ich wollte erst selbst beobachten, bevor ich es zur Sprache brachte. Die Entlassung kam irgendwie dazwischen und dann war Sofia zu Hause und faltete immer häufiger die Hände. Irgendwann begann sie kurz zu kneten, wenige Sekunden nur, und hörte gleich wieder auf. Sie konnte nach wie vor gut greifen und machte auch keine Rückschritte, das sprach also nicht für Rett. Doch es war nicht zu übersehen, das Falten, das Kneten nahm zu.

Wenige Wochen nach Entlassung aus dem SPZ hatte ich einen ambulanten Termin in der genetischen Abteilung. Das Kneten der Hände war bereits so offensichtlich, dass mir – endlich – der Rett-Test vorgeschlagen wurde. Es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weg gezogen und es war auch gut, lieber Gewissheit als diese Furcht, die sich zunehmend aufbaute. Die Formulierung war schon interessant, eigentlich sollte das Rett-Syndrom nur ausgeschlossen werden durch den Gentest. Denn mein Engel war doch viel zu fit für Rett...

Niemals vergesse ich den 15. März 2002 – allein fuhr ich ins SPZ, mein Mann konnte nicht mitkommen. Und dann erfuhr ich und hörte es wie durch Watte, dass mein Engel tatsächlich ein echter Engel ist, ein Rett-Engel auf Erden, mein eigener Engel. Ich war tapfer, sagte man mir später, ich nahm es mit Fassung. Ich war versteinert, könnte man auch sagen, und doch war ich nicht schockiert, denn es war genau das was ich schon immer wusste. es war einfach logisch und folgerichtig und konnte auch gar nicht anders sein.

Wir finden den Weg ins RettLand... wie tief du auch fällst, es ist immer jemand da, der dich auffängt... und das war in diesem Fall die Elternhilfe. Die Elternhilfe für Kinder mit Rett-Syndrom. Noch am Tag der Diagnose lernten wir im KiZ Katharina, ein Rett-Mädchen, mit seiner Mutter kennen, das war eine sehr positive Erfahrung. Am gleichen Abend nahm ich erstmals Kontakt mit der Elternhilfe auf über das Forum. Die Elternhilfe wurde die wichtigste Anlaufstelle, mein Anker, mein Netz vor dem Sturz ins Bodenlose. Nicht allein dazustehen, die Tatsache dass die anderen Eltern per Internet täglich zu erreichen sind, gibt mir bis heute sehr viel Kraft und Rückhalt.


Das Damoklesschwert beginnt zu schwingen...

mein Damoklesschwert heißt Regression – Rückschritt.
Eines Tages senkte es sich und begann zu schneiden, tief und schmerzhaft...


Verzweiflung und Panik, Wut und Rückzug, Selbstverletzung....

Noch wenige Wochen bis zum 4. Geburtstag, aber wo waren Fröhlichkeit und Übermut geblieben – da gab es nur noch Wut und Verzweiflung. Jeder Tag war Kampf und Frust und wimmerndes Weinen, trockene Tränen. Sofia begann damit, sich sehr fest selbst zu schlagen, sie schlug ihren Kopf auf den Boden, zog sich zurück an einen Ort in ihrem Inneren, der dunkel war und an dem sie allein sein wollte. Ich konnte nicht durchdringen zu meinem Kind und das tat sehr weh.

Halt geben...

an einem Tag Ende Januar 2003 war es dann besonders schlimm, Sofia war außer sich und fand nicht mehr in die Realität. Da probierte ich etwas Neues von dem ich im KiZ einmal gehört hatte. Das Festhalten. Ich nahm meine Kleine auf den Schoss und hielt sie fest, hielt ihre Hände die uns beide schlagen wollten, hielt ihren Kopf der wie ein Hammer auf und ab sausen wollte, hielt ihre Beine die treten wollten, hielt ihren ganzen Körper der sich bog und tobte. Es kostete mich meine gesamte körperliche Kraft das Kind so fest zu halten und ich hatte keine Vorstellung, wie lange das dauern würde. Ich zeigte ihr mit dem Halten dass ich da bin, dass ich sie nicht alleine lasse und die Situation zusammen mit ihr aushalte.

10 , 15, 20 Minuten und wir waren beide nassgeschwitzt. Irgendwann ließ der Widerstand nach. Sofia wurde ruhiger, wehrte sich weniger. 25 Minuten und ich konnte den Griff lockern. Und dann geschah ein kleines Wunder – Sofia schmiegte sich mit einem Mal an mich und ließ die Berührung zu. Die Mauer war durchbrochen. Den Rest des Tages war Sofia ruhig und viel zufriedener als viele Wochen vorher. Der Erfolg dieser halben Stunde Halten hielt lange Zeit an, Sofia fand endlich aus der Grundstimmung der Wut heraus und zwar für einige Wochen.

Besondere Kinder führen zu besonderen Menschen


Entlastung für die Familie – der FED der Lebenshilfe. Qualifizierte Betreuungskräfte die aus dem Budget der Verhinderungspflege finanziert werden. Zur stundenweisen Entlastung. Zwischen den Betreuerinnen und Sofia entwickeln sich oft feste Bande die viele Jahre halten.

Hier sei auch einmal ein großes Dankeschön an unsere Eltern eingefügt, also die Großeltern von Sofia. Sie helfen seit Jahren nach ihren Kräften mit und haben so manche Krise damit überbrückt.

Eine dunkle Zeit vor unserer Zeit

Auch wird mir immer wieder bewusst wie sehr sich die Zeiten verändert haben.

Wenige Jahrzehnte zurück, in einer sehr dunklen Zeit: Ein kleines Mädchen steht vor einer Mauer, mit nacktem Oberkörper. Beide Hände hat sie fest vor der Brust verknetet. Ihr Blick geht mitten ins Herz. So voller Unschuld, anrührend, vertrauensvoll. Wir sehen heute sofort dass es sich offensichtlich um ein Rett-Mädchen handelt. Und ihr Vertrauen wurde bitter enttäuscht. Die Bildunterschrift lautet:

Hildergard Märtins 1939. Die Sechsjährige kam am 11. Juli 1939 wegen Epilepsie in die Wittenauer Heilstätten. Mit der Diagnose "Idiotie" wurde sie in die Landesanstalt Görden überstellt und Anfang Mai 1940 in eine unbekannte Anstalt verlegt. Wann sie ermordet wurde, ist nicht bekannt.

Niemand kann sich diesem Foto entziehen. Die Augen des kleinen Mädchens lassen uns nicht mehr los. Die Gedanken an ihr Schicksal verfolgen uns, an die brutale, ungerechte, unmenschliche Behandlung die sie erdulden musste, an ihren frühen Tod durch grausame Ermordung.

Auch Hildegard hatte Eltern die sie innig geliebt haben. Die versucht haben sie zu schützen und es nicht konnten. Zeugnis gibt der handschriftliche Brief ihres Vaters.

So halten wir einen Moment inne und werden uns bewusst, welch ein schönes erfülltes Leben wir heute mit unseren Töchtern führen. Wir müssen sie nicht im Keller verstecken und um ihr Leben bangen, wir gehen mit Ihnen an die Öffentlichkeit und, wenn nötig, auf die Barrikaden um ihre Rechte zu erkämpfen. Wir dürfen stolz sein auf unser besonderes Kind und das zeigen wir der ganzen Welt. Das Privileg in dieser Zeit geboren zu sein ist nicht selbstverständlich. Und wenn unser Alltag mal wieder schwer scheint, sollten wir uns des kleinen Mädchens mit den sprechenden Augen erinnern.

Hildegard Märtins, für die keine Menschenrechte galten, steht stellvertretend für alle ungezählten, ungenannten, gequälten und ermordeten Rett-Kinder dieser Welt in allen Epochen. Wir schulden ihr unseren tiefsten Respekt.

Eine Mutter unserer Elternhilfe, mit der ich später einige Jahre gemeinsam im Vorstand arbeiten durfte, hat sie für uns in Berlin abfotografiert. Das Bild von Hildegard und der Brief ihres Vaters sind in Berlin ausgestellt. Topographie des Terrors - eine Gedenk und Dokumentationsstätte über NS-Verbrechen.


das tut weh – ausgegrenzt...


Dezember 2002 - wir kommen tieftraurig von der Weihnachtsfeier unserer Grundschule. Sofia war für ihre Verhältnisse sehr brav, ist auf der Galerie oberhalb der Aula herumgelaufen während unten die Weihnachtsfeier vor sich ging. Sie war nicht etwa laut dabei. Und trotzdem hat sich der Schulleiter nach einer Weile extra zu mir herauf bemüht um mich darauf hinzuweisen, dass Sofia stört.
Völlig perplex und beschämt habe ich die Feier vorzeitig verlassen. Meine Alternative wäre noch gewesen, Sofia die ganze Zeit unter Einsatz körperlicher Kräfte auf dem Arm zu tragen, in solchen Situationen pflegt sie laut zu schreien und wehrt sich gegen das Festgehaltenwerden. Das hätte erst recht gestört.
So waren meine beiden großen Kinder mal wieder die einzigen die ohne Mama auf der Feier zurechtkommen mussten. Gut dass heute der Papa dabei war.

Ich fühle mich zusammen mit Sofia ausgegrenzt.
Gilt die Einladung zur Weihnachtsfeier denn nur für gesunde Kinder??

Morgen werde ich das Gespräch mit dem Schulleiter suchen, es ist mir ein echtes Anliegen mit ihm über Sofia zu sprechen.

...das Gespräch war ganz ok. Es hat eine Basis von gegenseitigem Verständnis geschaffen, wenn wir auch nicht das Grundsätzliche lösen können. Menschen, die anders sind, „stören“, das ist das gesellschaftliche Grundproblem. Der Integrationsgedanke, die Inklusion steht auf einem schönen Papier.

Wechselbad der Gefühle...  

es ist August 2003 und ich schaue zurück auf das letzte halbe Jahr. Sofia hat sich gut gehalten, hat nichts weiter verlernt. Das ist schön. Kennzeichnend für die vergangenen Monate sind heftige Stimmungsschwankungen, ein schneller Umschwung zu Wut und Zorn und tägliche Kämpfe bei Alltagsanforderungen wie der Körperpflege. Die schon immer bestehende Tendenz zur Hyperaktivität hat sich enorm verstärkt und tritt oft in Form von regelrechten Anfällen auf. Dann rennt Sofia wie aufgezogen umher und klatscht sämtliche Gegenstände ab – Pflanzen, Schränke, Fenster, Fernseher und wieder von vorne. Die Pflanzen leiden, die Verhaltenstherapie greift hier nicht. Ich vermute dass es sich hier um eine Form von Stereotypie handelt.

Erleichterung im Alltag verschaffen mir nun einige Hilfsmittel – ein Reha-Buggy von  der Krankenkasse mit einer Sitzhose, die Sofia sicher fixiert. Nun sind Einkaufsbummel, Cafebesuche etc. wieder denkbar – ein Stück Normalität wurde mir zurückgegeben. Weil der Wagen mit Kind zusammen gut 30 Kilo wiegt, kann ich ihn nicht mehr tragen und bin jetzt stets angewiesen auf schwellenfreien Zugang und Aufzüge statt Treppen. Und merke gleich, Barrierefreiheit steht auch auf einem schönen Papier.

Wir haben unser Haus vergittert und verschleust wo immer das nötig war zur Erleichterung um Alltag.

Um diese Zeit, Juni 2003, besuchten wir das Abschlussfest der Fachhochschule München, Sozialpädagogik, Schwerpunkt Menschen mit Behinderung. Wir trafen viele nette und tolerante Menschen, es spielte eine tolle Band, die Stimmung erfasste auch Sofia und sie tanzte mit bei strahlender Laune. Auf diesem Fest lernten Sofia und ich einen jungen Mann kennen, angehender Sozialpädagoge, der später noch eine sehr wichtige Rolle in Sofias Leben spielen würde als ihr künftiger Schulbegleiter.

Sturz aus der Normalität....


die Dinge entgleiten mir. Sofia, nun gut 4 ½ Jahre alt, entwickelt ein extremes Verhalten außerhalb vertrauter Umgebung. War bereits die Schreiphase um die Regression herum schwierig, kennt diese Steigerung nun keine Bezeichnung mehr. Alles was sie kennt ist gut, das ist unser Zuhause, die Lebenshilfe, das Haus der Großeltern, das Auto. Alles Fremde ist bedrohlich und Sofia schreit, schreit, schreit... Festhalten erzürnt sie, Situationen beim Einkaufen, in Arztpraxen, in fremden Wohnungen, im Restaurant treiben das Kind in die pure Panik und Verzweiflung. Sie schreit so laut, so anhaltend und tobt mit ganzem Körpereinsatz, dass uns nun auch der Buggy nicht mehr viel nützt. Die Teilhabe am öffentlichen Leben ist nicht mehr möglich. Folge – wir als Familie ziehen uns zurück oder die Familie teilt sich. Es bürgert sich ein, dass die großen Kinder mit meinem Mann etwas unternehmen, während ich mit Sofia zu Hause bleibe. Oder ich mache meine Erledigungen alleine, während Sofia bei ihrem Papa zu Hause bleibt. Ein Familienleben oder eine Partnerschaft gibt es nicht, es gibt nur Aufgabenteilung. Gelegentlich nehmen wir die Unterstützung durch den FED in Anspruch, doch die Stunden sind sehr begrenzt. Allmählich nehme ich meine Umgebung wie hinter Glas nur noch wahr, die Menschen werden zu Schemen mit denen kaum Kommunikation möglich scheint. Ich bin wie ein Perpetuum mobile, muss ohne Energieverlust für immer funktionieren. Dennoch habe ich mich bewusst gegen Verbitterung entschieden und staune, wie viel Kraft mir täglich aufs Neue zur Verfügung steht. Ich fühle mich weder erholungsbedürftig noch überlastet, der Stress ist positiv, noch ist er das.

annehmen, begreifen, verstehen, akzeptieren - ein Lernprozess...


Die Jahre verstreichen, wir finden eine neue Normalität. Sofia entwickelt sich nicht weiter zurück, sie bleibt mobil, wird größer, schwerer, sogar ein wenig ruhiger und verständiger. Manchmal.

Weitere Schatten sind auf unser Leben gefallen, die Diagnose „Friedreich Ataxie“ in der Familie und zwar im folgenden Jahr nach der Rett-Diagnose. Aber auch viel Gutes und Schönes hat sich ereignet, besondere Menschen traten in unser Leben, gerade im Zusammenhang mit den beiden Krankheiten unserer Kinder. Nichts ist nur schwarz oder weiß und die Sicht verändert sich mit dem Standpunkt.

Ich kann nicht sagen, dass ich weniger glücklich bin als andere Menschen, denen jede Rechnung im Leben aufgegangen ist. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, ich bin fast glücklicher, zufriedener. Weil ich das Leben und den Augenblick ganz anders begreife.

Heute ist Sofia 8 Jahre alt. Sie ist motorisch noch immer so fit, noch immer ein Weglaufkind, aber sehr viel schwerer und größer. Pflege und Betreuung kosten enorme körperliche und seelische Kraft. Viele Steine werden einem noch dazu von außen in den Weg gelegt – in dem Sinn dass Behinderung einen Dauerkampf mit den Behörden bedeutet.

Jedoch mache ich dauernd auch die Erfahrung.. das Leben bietet immer einen Ausgleich. Wer besonders viel Kraft braucht, schöpft an der Quelle.

Herta Mai 2007

lieben und schätzen - es tut nicht mehr weh........

 
Wieder sind 11 Jahre im Flug vergangen, Sofia ist heute 19 Jahre alt und wohnt zuhause. Epilepsie hat sich um die Pubertät herum eingestellt, aber in einer sehr milden Form. Sofia spricht gut auf  Medikamente an. Auch eine Skoliose hat sich entwickelt, ebenfalls in sehr leichter Ausprägung.

Ebenfalls um die Pubertät herum traten große Probleme auf im Zusammenhang mit Harnstau. Der Lernprozess damit umzugehen ist täglich eine Herausforderung.

Sofia hat die Fähigkeit zu laufen behalten dürfen, kann recht gut kauen und schlucken. Da sie stehen kann ist die Pflege erleichtert, sie übernimmt ihr eigenes Gewicht.

Unsere große Lernzone ist das Verhalten, massive Schrei- und Tobsuchtsanfälle machen uns das Leben schwer. Stimmungsgewitter die sich nicht steuern lassen.

Darum der Name dieser Webseite – Gewitterengel für Unwetter und Sonnenschein im steten Wechsel. Attacken von Schrei- und Tobsucht halte ich besser aus, wenn ich sie mir als durchziehendes Gewitter visualisiere.

Inklusion ist an vielen Tagen ein Begriff, der nur für andere zu gelten scheint. Manchmal sind sie noch da, die Gedanken das Leben könne vorbeirauschen, während wir zuhause bleiben weil wir uns dem stundenlangen Schreien und Toben wieder mal nicht gewachsen fühlen. Aber immer wieder stellt sich raus, dass man eigentlich nicht wirklich etwas verpasst. Und es gibt viele Angebote der Entlastung, vor allem Förderstätte, FED und Kurzzeitpflege. Setzt man diese Hilfen richtig und gezielt ein, ist ein frustfreies, im Grunde normales Leben, durchaus möglich.

Seit die Krankheit ihres Bruders erst so richtig angezogen hat und uns mit der vollen Bandbreite der Friedreich Ataxie konfrontiert, früher Beginn und schwerer Verlauf und einiges Unerwartetes nebenher, weiß ich allerdings genau, was ich mit Sofia für einen Sonnenschein habe. Sie ist mir eher ein Trost als eine Belastung. Das Leben mit ihr ist zwar anders, aber doch geordnet und ideale Strukturen wachsen mit der Zeit.

Soeben liegt Sofia in ihrem Pool und genießt den Sommertag und das lauwarme Wasser. Das hält sie stundenlang aus. Wasser ist ihr Element geblieben. Den Schwimmflügeln entwöhnt lässt sich mein Engel angstfrei vom Wasser tragen, klammert nicht mehr am Rand sondern treibt in der Mitte des Beckens. Ob Hallenbad, tiefer Wasser oder Planschbecken ist ihr egal, aber warm muss es sein. Kalte Pfützen sind Kinderkram und mein Engel steht längst darüber.

Ihr Weg durch das Leben ist nicht mehr dunkel, sie besucht nun eine Förderstätte nach der Schule und ich habe bereits feste Vorstellungen bzgl. eines bestimmten Wohnheims. Doch gibt es noch keinen annähernden Zeitpunkt, nur eine nebulöse Vorstellung die sich in ganzen und halben Jahrzehnten bemisst. Wir werden sehen...

Das Gefüge unseres Lebens ist durch die Diagnosen erschüttert worden bis in die Grundfesten, es ist zerbrochen und wurde neu aufgebaut. Wege habe sich als Sackgassen erwiesen, neue Wege haben sich geöffnet die an neue, weit bessere Ziele führen.

Dass dieser Engel bei mir gelandet ist, dieser und kein anderer, kann ich heute als ein Geschenk empfinden, eine meiner größten Chancen im Leben.

Herta September 2018
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